«Shinrin Yoku» – Warum uns der Aufenthalt in der Natur so gut tut
Shinrin Yoku… zu Deutsch etwa mit Waldbaden übersetzt. Als ich das erste Mal davon gehört habe und dass man dabei Bäume umarmt, war meine erste Reaktion def. mit Unwohlsein verbunden. Ich habe mir vorgestellt, wie ich mich im Wald zum Idioten mache und mich wahllos an irgendwelche Stämme klammere, mir zahlreiche Insekten und sonstige Gekreuch und Gfleuch anlache und meine Kleider am Ende voller Harz sind und ich mit einem seeligen, leicht dämlichen Lachen zurück in die Stadt kehre. Zugegeben, das ist jetzt etwas überspitzt formuliert aber mein erster Eindruck von Waldbaden war eher so, dass es nichts für mich ist.
Und trotzdem hat mich das Phänomen nicht losgelassen. Als Erlebnispädagogen verbringen wir viel Zeit draussen und wählen die Naturräume passend für unsere Arbeit. Im Januar Blog ’25 beschreiben wir auch, wie wir innerhalb kurzer Zeit eine Reaktion von Menschen und Gruppen feststellen können, wenn wir mit ihnen nach draussen gehen. Aber müssen wir dazu wirklich Bäume umarmen und kann der Effekt irgendwie gemessen werden? Ich gebe zu, dass ich hin und her gerissen bin. Auf der einen Seite gibt es viel, dass fühl- und spürbar ist und dass ich selbst erlebt habe und damit weiss, dass es funktioniert. Auf der anderen Seite habe ich mal eine grössere wissenschaftliche Arbeit geschrieben und Mess- und Begründbarkeit hängen halt immer noch irgendwie nach.
Im Buch «Walking in the Woods» von Professor Yoshifumi Miyazaki aus Japan habe ich Antworten gefunden zu meinen Fragen. Es stellt sich heraus, dass Waldbaden nicht zwingend Bäume umarmen braucht und dass es, während es in Europa für mich oft etwas esoterisch daherkommt (was nicht per se schlecht ist, aber mir einfach nicht entspricht), in Japan wissenschaftlich belegte Forschung zu den Folgen vom Aufenthalt im Grünen gibt.
Der japanische Begriff Shinrin-Yoku, auf Deutsch oft als „Waldbaden“ übersetzt, beschreibt eine achtsame, sensorisch orientierte Begegnung mit der Natur – insbesondere mit dem Wald. Die Folgen sind eine Reduktion von Stress und eine Förderung der Gesundheit. Professor Yoshifumi Miyazaki, einer der führenden Wissenschaftler auf diesem Gebiet, belegt mit zahlreichen Studien, warum der Aufenthalt im Wald messbare positive Effekte auf Körper und Geist hat.
Reduktion von Stresshormonen – weniger Cortisol
Zahlreiche Studien, die Miyazaki durchgeführt oder zusammengetragen hat, zeigen, dass schon ein 20-minütiger Aufenthalt im Wald zu einem signifikanten Rückgang des Stresshormons Cortisol führt [1]. Dieses Hormon ist zentral am Kampf-oder-Flucht-Modus beteiligt. In der modernen Welt ist unser Cortisolspiegel durch ständige Reizüberflutung, Arbeit und Technologie chronisch erhöht – mit negativen Folgen für Herz, Immunsystem und Psyche.
In einer Vergleichsstudie mit 280 Teilnehmern, die entweder in städtischer Umgebung oder im Wald spazieren gingen, war der Cortisolspiegel bei den Waldspaziergängern um durchschnittlich 15,8 % niedriger. Auch der Blutdruck und der Puls normalisierten sich messbar.
Aktivierung des Parasympathikus – Entspannungsmodus einschalten
Das autonome Nervensystem besteht aus dem Sympathikus (für Aktivität) und dem Parasympathikus (für Regeneration und Entspannung). Waldbaden führt nachweislich zu einer stärkeren Aktivierung des Parasympathikus. Die Folge: Der Körper wechselt vom angespannten „Alarmzustand“ in einen Zustand der Ruhe, Erholung und Selbstheilung. Diese Wirkung tritt oft schon nach wenigen Minuten ein und lässt sich durch Herzfrequenzvariabilität und weitere physiologische Parameter wie z.B. den Puls, die Atemfrequenz und Atemmuster objektiv messen [2]. In der untenstehenden Tabelle sind die physiologischen Marker zusammen gefasst für eine einfachere Übersicht.
Wichtige physiologische Marker für die Parasympathikus-Aktivierung
Stärkung des Immunsystems – Killerzellen werden aktiviert
Ein besonders faszinierender Befund ist der Einfluss des Waldes auf das Immunsystem. Beim Waldbaden atmen wir sogenannte Phytonzide ein – bioaktive Substanzen, die von Bäumen ausgeschieden werden, um sich vor Bakterien, Pilzen und Insekten zu schützen. Diese ätherischen Öle, etwa α-Pinen oder Limonen, wirken beim Menschen stärkend auf die natürlichen Killerzellen (NK-Zellen) – eine Art weißer Blutkörperchen, die Virus-infizierte Zellen zerstören.
In einer Langzeitstudie stieg die Aktivität der NK-Zellen nach einem zweitägigen Waldbesuch um 50 % an und hielt über eine Woche an. Wiederholte Aufenthalte führen zu anhaltend höheren NK-Werten – also einem dauerhaft robusteren Immunsystem [3].
Psychische Entlastung – weniger Angst, Erschöpfung Prävention bzw. Begleitung von und bei Depression
Miyazakis Forschung weist darauf hin, dass sich bereits durch regelmäßige kurze Aufenthalte im Wald eine signifikante Verbesserung des allgemeinen psychischen Wohlbefindens erzielen lässt – ohne Nebenwirkungen oder Medikamente.
Neben den körperlichen Vorteilen wirkt Waldbaden auch tief auf unsere psychische Gesundheit. Zahlreiche Studien belegen, dass der Aufenthalt im Wald die Stimmung verbessert, grübelnde Gedanken verringert und sogar Symptome von Depressionen und Angst lindern kann.
Ein zentraler Risikofaktor bei Depressionen ist das sogenannte Ruminieren – das ständige Kreisen um negative Gedanken. Der Stanford-Psychologe Gregory Bratman [4] konnte nachweisen, dass ein 90-minütiger Waldspaziergang die Aktivität im subgenualen präfrontalen Kortex deutlich senkt – genau jener Hirnregion, die mit Ruminieren in Verbindung steht.
Auch subjektiv berichten viele Menschen nach dem Waldbaden über mehr innere Ruhe, Zufriedenheit und Klarheit. Dass diese Wirkung messbar ist, zeigten Berman et al. [5] von der University of Michigan: Teilnehmer mit leichten depressiven Symptomen zeigten nach einem Spaziergang im Grünen eine signifikante Verbesserung ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit und Stimmung – im Vergleich zu Stadtspaziergängern.
Förderung der Konzentration und Kreativität
Naturaufenthalte fördern nicht nur die Erholung, sondern auch die geistige Leistungsfähigkeit. Studien aus Japan und den USA zeigen, dass Menschen nach einem Waldbesuch eine bessere Konzentration, höhere kognitive Leistung und gesteigerte Kreativität aufweisen.
Der Grund liegt unter anderem darin, dass sich unser Gehirn im Wald weniger mit Reizüberflutung und Ablenkung auseinandersetzen muss. Die Natur erlaubt es, dass unser „Default Mode Network“ – ein Zustand des ruhigen Nachdenkens – aktiviert wird. Das Default Mode Network wurde durch funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) entdeckt und erstmals im Jahr 2001 von Marcus E. Raichle und seinem Team an der Washington University in St. Louis systematisch beschrieben [5]. Es ist eine Gruppe von Hirnarealen, die besonders aktiv ist, wenn wir nicht auf konkrete äußere Aufgaben fokussiert sind – also z. B. beim: Tagträumen, sich selbst reflektieren, Erinnerungen abrufen, oder Empathie und Perspektivübernahme. Diese Gehirnaktivität ist mit Selbstreflexion, Kreativität und tieferem Denken verbunden.
Ein ausbalanciertes DMN ist mit psychischer Gesundheit assoziiert. Zu starke oder zu schwache Aktivität kann z. B. mit Depression oder ADHS in Verbindung stehen. Regelmäßige Naturerfahrungen, Meditation oder Waldbaden helfen dabei, das DMN zu stabilisieren und in einen gesunden Rhythmus zu bringen.
Bessere Schlafqualität
Miyazaki zeigt auch, dass Waldbaden zu erholsamerem Schlaf führen kann [6].
Waldaufenthalte senken den Cortisolspiegel, der bei chronischem Stress häufig erhöht ist. Ein niedriger Cortisolspiegel am Abend erleichtert das Ein- und Durchschlafen. Weiter wird der Parasympathikus bei Aufenthalten im Wald aktiviert. Der „Ruhenerv“ fördert physiologische Prozesse wie Entspannung, niedrigere Herzfrequenz und Schlafbereitschaft. Studien zeigen: Bereits 20–30 Minuten in einem natürlichen Umfeld aktivieren den Parasympathikus deutlich. Natürliches Tageslicht im Wald reguliert die zirkadiane Rhythmik (innere Uhr), was die Melatonin-Ausschüttung am Abend unterstützt. Das Ergebnis: schnelleres Einschlafen, längere Tiefschlafphasen und weniger nächtliches Erwachen.
Positive Langzeitwirkungen
Einer der entscheidenden Punkte, die Miyazaki betont, ist, dass die Effekte des Waldbadens nicht nur kurzfristig spürbar sind. Regelmäßige Aufenthalte in der Natur führen zu einer langfristigen Stabilisierung des vegetativen Nervensystems, einer nachhaltigen Senkung des Blutdrucks und einer erhöhten Resilienz gegenüber Alltagsstress.
Besonders effektiv sind dabei nicht sportliche Aktivitäten im Wald, sondern langsames, achtsames Gehen, Sitzen, Atmen und Beobachten – ganz im Sinne des Shinrin-Yoku.
Was bedeutet das nun für mich und vielleicht auch für dich?
Ich wusste schon vor der Lektüre des Buches von Miyazaki, dass ich mich nach einem Aufenthalt im Wald besser gefühlt habe. Erst im Nachhinein ist mir aber aufgefallen, dass es einen Unterschied macht, ob ich sportlich im Wald unterwegs bin (z.B. beim Mountain Biken) und damit den Wald als Kulisse/Ort für eine Beschäftigung brauche oder ob ich mich einfach so im Wald aufgehalten habe. Dies kann sein, um einfach ein Feuer zu machen und darauf Kaffee zu kochen, zu biwakieren oder um einfach zu sein. Nach dem Sport fühlte ich mich zwar physisch gut, aber mental nicht gleich erholt, wie wenn ich einfach so im Wald war. Ich nehme für mich mit, dass ich um von den Effekten des Waldbadens zu profitieren keine Bäume umarmen muss (worüber ich nicht unglücklich bin ;-) ). Es ist aber wichtig, dass ich bewusst in den Wald/die Natur gehe und mir die Zeit nehme, diese wahrzunehmen, zu riechen, zu sehen, zu hören und zu fühlen und achtsam unterwegs bin.
Wie geht es dir damit? Hast du dir auch schon Mal Gedanken zum Waldbaden gemacht oder von den oben erwähnten Folgen davon profitieren können? Schreib uns doch einen Kommentar dazu und teile deine Gedanken dazu. Wir freuen uns!
Quellen
1. Lee, J., et al. (2011). Effect of forest bathing on physiological and psychological responses... Public Health, 125(2), 93–100.
2. Park, B. J., et al. (2010). The physiological effects of Shinrin-yoku... Environmental Health and Preventive Medicine, 15(1), 18–26.
3. Li, Q., et al. (2008). A forest bathing trip increases human natural killer activity... Journal of Biological Regulators and Homeostatic Agents, 22(1), 45–55.
4. Bratman, G. N., et al. (2015). Nature experience reduces rumination... PNAS, 112(28), 8567–8572.
5. Raichle, M. E., et al. (2001). A default mode of brain function. PNAS, 98(2), 676–682.
6. Morita, E., et al. (2011). Effects of forest walking on sleep... Biopsychosocial Medicine, 5(1), 13.